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Die Trauer der Universitäten

14. Juli 2017

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Die neoliberale Ideologie hat zu einer radikalen Veränderung von Schule und Hochschule geführt. Denn wenn Erkenntnis durch Kompetenz ersetzt wird, bleibt von der Bildung nichts mehr übrig: In Frankfurt tagte die erste Inkompetenzkonferenz.

Kompetent sein will jeder – zumindest jeder, der es zu etwas bringen will. Kompetenzen, so ist allenthalben zu hören, sind der Schlüssel zum Erfolg. Wer sich heute eines umfangreichen Sachverstands und vielseitiger Fähigkeiten rühmen kann, gilt in einer mobilen Wissensgesellschaft wie der unseren als bestens vorbereitet. Was also sollte an einer kompetenzorientierten Bildungspolitik verkehrt sein?

In welchem Ausmaß derjenige falsch liegt, der dies annimmt, veranschaulichte die „Frankfurter (In-) Kompetenzkonferenz“, die am vergangenen Wochenende am Frankfurter Universitätsklinikum stattfand. Veranstaltet wurde die interdisziplinäre Tagung in der Tradition der „Frankfurter Einsprüche gegen die Ökonomisierung der Bildung“, die 2005 erstmals vorgetragen wurden. Sie sind als kritische Entgegnung auf die radikale Umwälzung zu verstehen, die sich an deutschen Universitäten seit der Bologna-Reform vollzieht.

Die Konferenz zielte auf eine Entlarvung des Kompetenzbegriffs, der seine Wurzeln in der Ökonomie hat und in allen einschlägigen bildungspolitischen Profilen, Curricula, Prüfungsordnungen, Lernzielen, Lehrplänen und Studienordnungen eine geradezu beängstigende Karriere gemacht hat. Das Ziel von Bildungsprozessen, sagte der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, sei nicht mehr Bildung, sondern der umfassend kompetent gewordene Mensch. Sachkompetenz, soziale Kompetenz, interkulturelle Kompetenz – die von Liessmann präsentierte Liste der Fähigkeiten, auf deren Erwerb Schule und Studium ausgerichtet seien, ist lang.

Die Dominanz der Anwendungsorientierung

Das Wissen trage seinen Zweck nicht mehr in sich selbst, sondern unterliege dem Kriterium der Anwendbarkeit. Dass sich diese Entwertung von Inhalten in den Curricula spiegelt, zeigten Johanna Gaitsch und Bernadette Reisinger von der Universität Wien. Der fachliche Anteil werde immer schmaler. Das Verhältnis von Wissen und Können, erklärte Liessmann, sei durch die Dominanz der Kompetenz verkehrt worden: Die Sache selbst sei nur noch das Mittel, um etwas zu können. Was zählt, sei messbare Tätigkeit, Nützlichkeit, Problemlösung. Damit aber würden Schülern und Studenten die Erkenntnislust und Neugier genommen, deren sie doch bedürften, um die Wirklichkeit verstehend zu durchdringen.

In der Praxis sieht das dann so aus: Man kann studieren, ohne gebildet zu sein. Man kann das Abitur erlangen, ohne Fachwissen erworben zu haben. Wer das nicht glaubt, werfe einen Blick auf heutige Abitur- und Prüfungsaufgaben. Hans Peter Klein, Lehrstuhlinhaber für Didaktik der Biowissenschaften an der Universität Frankfurt, hat die Probe aufs Exempel gemacht und Neuntklässlern Abituraufgaben im Fach Biologie vorgelegt. Sie hatten keine Schwierigkeiten, die Aufgaben zu lösen, denn alles, was sie dort zu beantworten hatten, stand in dem der Aufgabe beigefügten Text. Ähnliches, auch das zeigte die Konferenz, gilt für die Pisa-Studie, die sich ebenso wie das Zentralabitur in Kenntnis der Prüfungsinhalte als reiner Etikettenschwindel erweist.

Neoliberale Aufweichung der Bildung

Das Ergebnis der Kompetenzorientierung, so lautete der Grundtenor aller Referenten bei der Konferenz, ist die Erziehung zur Inkompetenz. Der Prozess einer „Verflachung“ (Bernhard Kempen) der Bildungslandschaft werde verstärkt durch die Inflationierung von guten Noten und der auf der Konferenz stark kritisierten Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die unaufhörlich höhere Studentenzahlen fordert. Die Ursache all dessen nannte der Hamburger Mathematiker Jürgen Bandelt unter Zustimmung der Anwesenden beim Namen: Der Neoliberalismus habe das humanistische Bildungsverständnis zerstört.

Aber warum leistet niemand Widerstand? Warum lassen die Hochschullehrer sich das gefallen? Zu wenig Rückgrat, befand Liessmann. Zu viel Druck durch Drittmittelvergabe und prekäre Beschäftigungsbedingungen, gab Klein zu bedenken. Die Verschulung der Universität sei ein ungewollter Effekt, sagte der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl.

Das allerdings ist kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie beharrlich die neoliberale Aufweichung der Bildung vorangetrieben wird, obwohl sie seit Jahren von massiver Kritik durch Medien, Lehrer und Hochschullehrer begleitet wird. Denn was auf der Konferenz vorgetragen wurde, ist, von einzelnen Begriffen abgesehen, an denen sich die Kritik jeweils entzündete, keineswegs neu – und das ist vielleicht das eigentlich Erschreckende daran. Es wird seit geraumer Zeit auf die Folgen dieser ökonomisierten Bildungspolitik aufmerksam gemacht: auf den Niveauverfall an Schulen und Hochschulen, auf die Prekarisierung des akademischen Mittelbaus, auf die „Praxis der Unbildung“ (Liessmann) und den schleichenden Ersatz von Wissen und Inhalt durch Didaktik, Präsentation und Methode. Zu einer sichtbaren Veränderung des bildungspolitischen Profils haben diese Einsprüche bislang nicht geführt.

Die Macht der Eltern

Natürlich mag es wohltuend sein, sich einmal – was in diesen Fragen selten genug passiert – in einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten zu bewegen. Denn dadurch erspart man sich die vergebliche Mühe, erst einmal langwierig (ohne jedoch auf das Verständnis des Gegenübers hoffen zu dürfen) zu erklären, warum es denn ein Problem darstellt, wenn Schüler und Studenten immer weniger wissen und nicht einmal mehr die Grundrechenarten und die deutsche Rechtschreibung beherrschen. Die Aussichten dürften indes gering sein, dass eine solche Zusammenkunft wie die Konferenz irgendetwas bewirkt. Mathias Brodkorb, langjähriger Bildungsminister, inzwischen Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, wies darauf hin, dass sich die gesellschaftliche Realität woanders abspiele. Was an einer Schule stattfindet oder nicht und wie darauf reagiert wird, werde nicht maßgeblich von den kritischen Einsprüchen der überregionalen Tagespresse beeinflusst, sondern von den kleinen Lokalzeitungen am Ort, von der Stimmung vor der eigenen Haustür.

Klein verwies darauf, dass Eltern auf lokaler Ebene sehr viel mehr ausrichten könnten als Lehrer und Hochschullehrer. Das zeige etwa die Umstellung von G9 auf G8: Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre wird mittlerweile in vielen Bundesländern wieder zurückgenommen. Nur: Jeder, der den Schulalltag kennt, weiß, dass Eltern in aller Regel nun gerade nicht zu denjenigen gehören, die es begrüßen, wenn das Lernniveau angehoben und ihren Kindern mehr (beziehungsweise überhaupt etwas) abverlangt wird. Sobald ein Schüler schlecht benotet wird – und „schlecht“ bedeutet in heutiger Übersetzung alles, was schlechter als eine Zwei ist –, müssen die Lehrer damit rechnen, dass die Eltern sich beschweren, ihnen eine ungerechte Behandlung ihres Kindes vorhalten und jeglichen Anteil des Schülers an seiner nicht als gut eingestuften Leistung abstreiten.

Wenn also Hochschullehrer, Lehrer und Medien nichts Wesentliches ausrichten können und mit Eltern nicht zu rechnen ist – was bleibt dann noch? Die Konferenzteilnehmer zeigten sich kämpferisch. Sind die proklamierten Bildungsziele überhaupt noch verfassungskonform? Manch einer setzte auf den juristischen Handlungsspielraum – sofern es ihn gibt. Dass es an der Zeit sei, gegen die „kompetenzorientierte“ Bildungspraxis Widerstand zu leisten, darin schienen sich alle einig zu sein. Doch der Weg zum bildungspolitisch wirksamen Widerstand muss wohl erst noch gefunden werden. Es steht zu hoffen, dass die Initiatoren schon einen Schritt weiter sein werden, wenn sie sich zur nächsten Bildungskonferenz versammeln, die im kommenden Jahr geplant ist.